Wunderkammern in Venedig

Wenn ich noch einmal ein Studiolo bauen würde, würde ich einen Ort wählen wie den von Giovanni Grimani, Patriarch von Aquileia.

Der Grimani-Palast steht im Herzen Venedigs, nur eine Brücke entfernt vom lebendigsten gesellschaftlichen Zentrum der Stadt, dem Campo Santa Maria Formosa, wo einst der berühmteste Cortegiana, Veronica Franco, ihren Salon hielt und der Palast des Siegers von Lepanto, Sebastian Venier, stand. Vor dem Palast führte die Ruga Giuffa entlang, die, wie der Name schon sagt, die reiche und belebte Hauptstraße der armenischen Händler aus Neu-Dschulfa war. Gleichzeitig war das Gebäude in völlige Einsamkeit gehüllt. Auf zwei Seiten von Kanälen umgeben – dem Rio de Santa Maria Formosa und dem Rio San Severo – war es auf der dritten Seite durch ein benachbartes Gebäude von der Außenwelt abgeschirmt, und von der vierten Seite, der armenischen Straße, führte nur eine schmale Einfahrt zum Palast. Grimani konnte, nach der Rückkehr aus dem Trubel einer der intensivsten Städte der Welt, sofort in der Einsamkeit seines Arbeitszimmers versinken.

Als er das Grundstück 1530 zusammen mit seinem Bruder Vettore von ihrem Onkel Antonio Grimani, dem Dogen, erbte, entschieden sie bereits damals, etwas Neues zu bauen, etwas, das es in Venedig noch nie gegeben hatte. Der quadratische Innenhof, umgeben von roten Marmorsäulen, imitiert nicht die Innenhöfe venezianischer Handelshäuser, sondern die der antiken römischen Domus, nach den Vorgaben der großen Renaissance-Bauschriftsteller.

Früher, wie bei jedem venezianischen Palast, zeigte die Haupttür des Grimani-Palastes zum Wasser – dem Rio San Severo –, aber seitdem das Gehen die Hauptverkehrsmethode in Venedig wurde, bleibt diese verschlossen.

Die Treppe, die in den ersten Stock führt, wurde zwischen 1563 und 1565 nach dem Tod von Vettore von Grimani vom römischen Manieristen Federico Zuccari, der dafür eigens nach Venedig kam, gestaltet. Zuccari malte nicht nur die Treppenhausfresken, sondern auch Fresken und ein Altarbild in der eigenen Kapelle des Patriarchen, der San Francesco della Vigna. Zudem bewarb er sich um Fresken für die San Rocco Kirche und den Dogenpalast, was ihm jedoch nicht gelang. Daraufhin setzte er seine Karriere in Florenz, Rom und Paris fort. In diesem Treppenhaus, das die Tugenden des Auftraggebers darstellt, wiederholt der reich verzierte Stuck die Motive aus Grimani’s antiker Gemmensammlung, über das wir gleich sprechen werden.

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Oben auf der Treppe befindet sich der große Salon, der das gesamte nördliche Flügel des Palastes einnimmt und einst als Empfangshalle diente. Früher zierten Porträts von Mitgliedern der Familie Grimani die Wände des Salons. Heute hängen dort die abstrakten Bilder von Georg Baselitz, die er speziell für die Ausstellung „Archinto“ (2019-2022) schuf. Laut dem Künstler sind die Werke von Tizians rätselhaftem Porträt des Kardinals Federico Archinto von 1558 inspiriert.

Giovanni Grimani war ein großer Sammler, was in aristokratischen Kreisen nichts Neues war, aber es war außergewöhnlich, dass er seine Sammlung in speziellen Ausstellungsräumen präsentierte.

Ab Mitte des 15. Jahrhunderts betonten die Architekturtheoretiker der Renaissance, dass ein wahrer Humanist ein „Studiolo“ brauche, ein kleines Arbeitszimmer, in dem er mit antiken und christlichen Autoren berate und die Wunder der Natur und menschlichen Kunstfertigkeit zu seiner und der Freude seiner Besucher sammeln sollte. In der ersten Runde lag der Schwerpunkt auf ausgegrabenen Relikten der Antike, auf Statuen und gravierten Gemmen. Diese sammelte auch Grimani und stellte sie in dem westlichen Flügel des Palastes aus, der für Gäste zugänglich war (Räume 3-5 auf dem Grundriss).

Der Patriarch hinterließ die Statuen der venezianischen Republik, und diese wurden die Grundlage des Museo Archeologico Nazionale di Venezia. Nach der Restaurierung des Grimani-Palastes im Jahr 2008 wurden einige dieser Statuen an ihren ursprünglichen Standort zurückgebracht.

Die Laokoon-Gruppe ist eine 17. Jahrhundert Kopie der ursprünglichen aus dem Vatikan.

Die Pallas Athene Parthenos ist eine römische Kopie eines Hellenistischen Originals aus dem 4.-3. Jahrhundert v. Chr.

Suovetaurilia, das römische Opfer für das Wohlergehen und die Fruchtbarkeit der Gemeinschaft, eine Schwein-Schaf-Stier-Opferung. Dies ist eine Kopie des Reliefs, das 1637 in Montalto di Castro ausgegraben und von Napoleon 1801 ins Louvre gebracht wurde

Der Höhepunkt des Weges, der durch vier Räume führt, ist die Tribuna mit quadratischem Grundriss, deren offene, kassettenartige Kuppel von dem römischen Pantheon inspiriert wurde. Hier wurden die meisten der zurückgebrachten Statuen aufgestellt. Die Anordnung der Statuen folgt explizit der der Renaissance-Wunderkammern, in denen der Fokus nicht auf einer chronologischen oder stilistischen Reihenfolge lag, sondern auf dem Kuriosen, dem dekorativen, trophäenartigen Ansammeln von Objekten, das unerwartete Assoziationen zwischen den nebeneinander stehenden Statuen hervorbringt.

Die am überraschendsten platzierte Statue ist die der Entführung des Ganymedes aus dem 2.-1. Jahrhundert v. Chr., die direkt unter der Öffnung der Kuppel hängt, als ob der Adler durch diese Öffnung geflogen wäre, um den jungen Mundschenk zu Zeus zu bringen

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Ein weiterer interessanter Raum ist der Sala a Fogliami, der Saal der Laubwerke, benannt nach dem pflanzlichen Stuckwerk an der Decke. Die vielen Bäume, Früchte und Blumen, sowie die dazwischen schwirrenden Vögel, die mit wissenschaftlicher Genauigkeit dargestellt sind, führen über zu einem nächsten Kapitel der Renaissance-Wunderkammern, von den von Menschenhand geschaffenen Werken zu den Wundern der Schöpfer.

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Natürliche Kuriositäten wie Narwalschnecken, Straußeneier und Missbildungen fanden schon in den mittelalterlichen Sammlungen der Fürsten ihren Platz neben Kunstwerken. Die Naturalia erhielten jedoch erst mit den Entdeckungen und dem wachsenden Interesse an Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert denselben Status wie die Artificiaria in den Wunderkammern. Dies geschah nach dem Abschluss der Grimani-Sammlung, so dass in dieser Kunst- und Wunderkammer das Wunder nur noch an der Decke dieses Raums vertreten ist.

Diese Asymmetrie wird nun durch eine neue Ausstellung korrigiert, die im östlichen Flügel des Palastes, der auf den Fluss blickt, unter dem Titel „A Cabinet of Wonders“ präsentiert wird.

Im Inneren des Palastes gelten das Camerino di Callisto und das Camerino di Apollo als Giovanni Grimani’s ehemaliges privates Studiolo, wo er einen Teil seiner Sammlung aufbewahrt haben könnte – vielleicht die Gemmen und zufällige Naturkuriositäten, die zu dieser Zeit noch nicht in einer eigenständigen Wunderkammer organisiert waren. Hier und in den angrenzenden Räumen – im Sala del Doge, in der Kapelle des Palastes und im benachbarten Raum – wurde nun eine doppelte Ausstellung eingerichtet: eine Kunst- und Wunderkammer, die es hier nie gegeben hat, aber gegeben haben könnte, wie es in vielen 17. Jahrhundert Palästen in Venedig und anderswo der Fall war.

In der ersten Ausstellung wurden Objekte aus venezianischen und anderen Museen zusammengetragen, um eine „authentische“ Wunderkammer zu rekonstruieren. Die Artificiaria werden durch Werke von Tizian, Giambologna, dem jüngeren Bruegel, Veronese, Goldschmiedearbeiten, intarsierten Kabinetten und goldenen Automaten vertreten, und all dies wird von Grimani’s kritischem Blick aus seinem Porträt an der Wand beobachtet, gemalt von Jacopo und Domenico Tintoretto. Der Hintergrund der Naturalia wird durch eine 17. Jahrhundert Gravur einer Wunderkammer dargestellt, deren Objekte in Grisaille ausgeführt sind und in der die farbenprächtigen Präparate, Korallen, Muscheln, Fische und natürlich Krokodile herausragen, die in jeder Wunderkammer unverzichtbar sind.

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Nach den beiden Camerini folgen drei Räume, die fast vollständig eine zeitgenössische Wunderkammer präsentieren: die Sammlung des in London lebenden Niederländers George Loudon. Laut Loudon sammelte er seit seiner Kindheit immer etwas anderes, bis er sich in den 1970er Jahren endgültig der zeitgenössischen Kunst zuwandte. Daraus wuchs auch seine nächste Leidenschaft, die Sammlung naturwissenschaftlicher Lehrmittel, da er sagt: „Diese haben inzwischen ihre didaktische Funktion verloren, und wir können mit ihnen machen, was wir wollen.“ Man kann sie also auch als Kunst betrachten, wobei wir ihre Schönheit, Handwerkskunst und das technische Wissen der Schöpfer genießen.

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Diese Sichtweise zeigt gut, wie sich die Wunderkammer im vergangenen Jahrhundert verändert hat. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, als sie noch existierten, wurden ihre Objekte als Gottes Schöpfungen betrachtet, und durch das Sammeln und Studieren der Gegenstände strebte man an, den dahinterstehenden geheimen Plan zu verstehen. Als im 19. Jahrhundert die erstarkte Naturwissenschaft diese Funktion übernahm, fielen die Wunderkammern aus der Mode. Julius von Schlossers Monografie von 1908 entdeckte sie wieder, und fortan griffen vor allem die Surrealisten sie auf, aufgrund der Möglichkeiten der freien Assoziation zwischen den zufällig zusammengetragenen Kuriositäten. Der Sinn der Wunderkammer war nun nicht mehr das Verstehen und Illustrieren einer dahinterliegenden Ordnung, sondern die Schaffung von Kunstwerken aus „objets trouvés“, bei denen der Betrachter assoziative Verbindungen herstellt oder einfach die Vielfalt genießt.

Auf diese Weise ist die Wunderkammer inzwischen auch zu einem Einrichtungsstil geworden, vor allem im amerikanischen und britischen Raum. Eigene Zeitschriften und Fachleute bieten Wunderkammer-inspirierte Innenräume und Dekorationen an. Es ist kein Zufall, dass der Kurator Thierry Morel den Szenografen Flemming Fallesen bat, die Ausstellung auf einem professionellen Niveau einzurichten, das auch von Gourmets anerkannt wird.

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Und diese Sichtweise hat auch die Demokratisierung der Wunderkammer gebracht. Heute ist es nicht mehr die strengen Vorschriften der Handbücher humanistischer Antiquare und Naturhistoriker, sondern das Auge des Betrachters, das die Wunderkammer bildet. Wenn wir uns umsehen, auf unserem Tisch gesammelten Gegenständen, Steinen und Muscheln vom Meer, Treibholz, bunten Blättern und Kastanien oder den an die Wand gehängten Bildern, sehen wir: Auch wir haben unsere eigene Kunst- und Wunderkammer.

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